
Neugestaltung der Lobbies und Flure in der ersten Etage, einschließlich einer Wassersäule und Kunst aus der Francis J. Greenburger Collection.
Roanoke
Virginia ist bekannt für seine besonders schönen Bäume, hörte ich. Es läge an der milden Feuchtigkeit, den warmen Sommern und kühlen Wintern, meint der Taxifahrer, der mich vom Flughafen in die Innenstadt bringt, zu dem Bürogebäude für dessen neues Lobbydesign ich. ›Das eigentlich Tolle sind aber die Blue Ridge Mountains‹, fährt er fort. ›Sie umschließen das langgestreckte Tal, zusammen mit den Allegheny Mountains auf der anderen Seite.‹
›Warum eigentlich Blue Ridge?‹
›Im Abendlicht schimmert der Bergkamm bläulich.‹
Mein Taxifahrer hat ein verschlossenes Gesicht mit aufmerksamen Augen, er sieht etwas ungesund aus, wie jemand, der zu wenig Sonne sieht. Jetzt deutet er mit seinem glattrasierten Kinn in Richtung des mir nicht besonders spektakulär erscheinenden, bewaldeten Gebirgszugs am Horizont.
›Es ist das älteste Gebirge unserer Erde. Und deshalb auch das niedrigste. Je älter ein Gebirge, umso mehr wird es abgetragen.‹
Das will ich mir merken, vielleicht kann ich diese Information irgendwann selbst einmal anbringen. Oder auch jene, dass der bläuliche Effekt durch bestimmte organische Verbindungen zustande kommt, die von den Eichen in die Atmosphäre abgegeben werden. Ich bin gerade im Informations-Aufnahmemodus, und der Taxifahrer scheint das zu spüren.
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›Roanoke ist die am niedrigsten über dem Meeresspiegel gelegene Stadt in dem Gebirgstal‹, fährt er fort. ›Das führte dazu, dass sich hier Eisenbahngesellschaften ansiedelten. Ein 500-Seelen-Dorf wurde innerhalb von wenigen Jahre zum Umschlagplatz für Waren aller Art. Was auch immer in die Südstaaten oder den mittleren Westen gebracht wurde, alles fuhr durch Roanoke.‹
›Roanoke‹, sage ich, mehr zu mir selbst. ›Eigenartiges Wort, eigentlich.‹
›Es ist der Name eines indigenen Stammes. Die Roanoke gehörten zu den Ersten, die mit den Engländern Kontakt hatten. Ich weiß das von einer Kollegin, die selbst eine Lakota ist. Und also zu den Null-komma-null-zwei Prozent Amerikanischer Ureinwohner in dieser Stadt gehört.‹
›Eine Lakota …‹
Manchmal reicht eine simple Wortwiederholung, um den anderen zum Weitersprechen zu ermuntern.
›Das ist einer der drei Hauptstämme der Sioux. Die Roanoke waren bereits ausgerottet, noch bevor die Vereinigten Staaten gegründet wurden.‹
›Fährt Ihre Kollegin, die Lakota, auch Taxi?‹
›Nein. Taxi fahre ich nur nebenher. Eigentlich bin ich Schauspieler. Ich bin fünfzehn Jahre lang über Bühnen in NY und L.A. getingelt. Dann kam ich zurück nach Roanoke, weil eine Tante sehr krank wurde und gepflegt werden musste. Weil Roanoke kein professionelles Theater hat, konnte ich meinen Beruf nicht mehr ausüben. Denn ich bin professioneller Schauspieler. Kein Amateur.‹
›Das war aber sehr nett von Ihnen, dieses Opfer zu bringen.‹
›Immerhin kam ich so dazu, meinen Master in Literatur zu machen. Und über das eigene Schreiben bin ich dann zum technischen Schreiben gekommen.‹
›Technisches Schreiben …‹, wiederhole ich etwas verständnislos.
›Ich bin Texter für eine Unterorganisation des Verteidigungsministeriums. Meine Kollegin, die Lakota, ist bei derselben Miliz zuständig für Marketing und soziale Netzwerke.‹
Es ist das erste Mal, dass ich den Begriff Miliz nicht negativ konnotiert höre. Für einen Moment habe ich das Gefühl, als würde ich etwas Schwarzes nicht mehr als schwarz wahrnehmen, weil alles drum herum schwarz ist.
Wir nähern uns der mittelgroßen Stadt, aus der vor bewaldeten Hügeln eine mittlere Anzahl mittelgroße Bürogebäude hervorragen. Quader und Riegel, wie quer oder hochgestellte Bauklötze. Dunkle Fensterstreifen in hellen Betonfassaden vor dem Hintergrund des Gebirges. Das ist also Roanoke.
An einer roten Ampel angelangt, blicke ich hinunter auf einen mächtigen Strang Bahngleise, wie ein breites ausgetrocknetes Flussbett. Oberhalb der Bahngleise liegt, wie ein Eingangshüter in die Stadt, ein silbrig glänzendes, futuristisches Gebäude: metallen schimmernde Bögen, elegant ineinander verschachtelt in schrägen Winkeln und mit spitzen Glasflächen, in denen sich der Himmel spiegelt.
Und auch der Stadtkern empfängt uns freundlich, mit rotem Backstein, Sprossenfenstern und handgemalten Schildern, die wie Nasen neben den Schaufenstern aus der Fassade heraushängen. Gegenüber der ziegelroten Markthalle ein grader Block viktorianisch verzierter Flachdachhäuser. Denke ich mir Autos weg, erinnert der weite Straßenblock in seiner Symmetrie an den Wilden Westen, bereit für eine Schießerei am Mittag.
Wieder abgebogen auf eine größere Straße fließt der Verkehr schneller, zwischen hohen Fassaden. Vorbei an Banken, einem Gerichtsgebäude, einem Parkhaus.
Dann erreichen wir 300 Franklin Road. Hinter einem betonierten Vorplatz mit weiß blühendem Magnolienbaum der Anlass meiner Reise: ein dusterer achtstöckiger Büroquader, fast so hoch wie breit, und etliche der verspiegelten Fenster sind angelaufen wie altes Silberbesteck.
Ein Produktionsfehler bei der Doppelverglasung, hieß es, der Austausch würde ein Vermögen kosten. Deshalb will das Asset Management das Gebäude erstmal von innen modernisieren. Deswegen bin ich hier.
Mit großer Sanftheit bringt der Fahrer das Auto vor dem Gebäude zum Stehen. Mir fällt ein, dass er Schauspieler ist, und ich frage mich, ob die Sensibilität beim Halten echt ist oder gut gespielt. Unsere Blicke gehen vor auf die Skulptur vor dem Haupteingang des Gebäudes: ein abstraktes, mannshohes Gebilde von industrieller Anmutung. Mit seinen gezahnten Stahlbögen steht die Skulptur auf dem Betonpodest, für das ich die Zeichnung gemacht hatte. Ich hatte kommen sehen, wie klobig es wirken würde, viel massiver wirkt als das Objekt, das es trägt, aber musste mich an die vom Künstler erbetene Mindesthöhe halten und den vom Bauamt vorgeschriebenen gemachte Mindestdurchmesser.
Zuletzt hatte ich die Arbeit im Atelier des alten Bildhauers in Queens gesehen. Er suchte einen neuen Ort für sie und war bereit, sie zu verschenken, wenn der neue Besitzer die Transportkosten zahlen würde. Auf diese Weise hat mein Arbeitgeber schon mehrere Bürokomplexe mit monumentalen Kunstobjekten aufwerten können.
Der Taxifahrer meint, die Skulptur erinnere ihn an einen Stierschädel. Aber auch daran, wie er einmal in einem Theaterstück als Atlas einen technoiden Riesen-Eierbecher anstelle einer Erdkugel getragen habe. ›Der war aber aus Pappmache. Ich musste sein Gewicht spielen.‹
Ich zahle und der Fahrer wünscht mir einen angenehmen Aufenthalt in Roanoke. Nach allem, was er mir erzählt hat, geht mir die Verabschiedung fast ein wenig zu schnell. Also beuge ich mich noch einmal hinunter und gucke durchs Fenster.
›Wie geht es eigentlich Ihrer Tante?‹
Er schlägt die Augen nieder. ›Sie ist gestorben.‹
›Das tut mir sehr leid.‹
Er nickt in angemessener Würde, bevor er weiterfährt. Ich bleibe kurz stehen vor dem verspiegelten Büroklotz, und hoffe, in den kommenden zwei Tagen von seiner Schwere nicht erdrückt zu werden.
She passed, hatte er auf Englisch gesagt. Wenn Amerikaner von ›passing‹ sprechen, statt des vergleichsweise plumpen und direkten ›dying‹, wie ich es sagen würde, klingt es leichter – der Tod hat dann etwas von elegantem Vorbeiziehen. So wie man im Auto auf einer glatten Straße an einem Ort vorbeizieht, so zieht ein Mensch mit seinem Leben vorbei. Sieht vielleicht noch die blaue Silhouette eines Gebirgskamms im Abendlicht, und zieht weiter. Von manchen bleiben Erinnerungen, die in stark verdünnter Form weitergegeben werden an einem Fahrgast. Von anderen bleiben zu technoiden Rieseneierbechern zusammengesetzte Stahlobjekte, die selbst den Abriss unrentabel gewordener Bürokomplexe überdauern.
Von den Roanoke blieb der Name.
