Water’s Edge, Belcamp, Maryland

Konzept und Design für ›The Quad‹, mit Büro- und Konferenzcenter, Art Studio, Wellness.
Konzept und Supervision des hier stattfindenden Freizeitprogramms für Mieter (Kunst, Yoga, Events)

Fotografie: Joanna Przybyla

Belcamp

Außerhalb des Speckgürtels von Washington D.C., genauer gesagt eine knappe Autostunde landeinwärts von Baltimore, liegt ein künstlich angelegter See an einem riesigen Parkplatz, auf dem im Halbrund angeordnet, vier klotzartige Betonquader mit verspiegelten Fenstern stehen.
Der Waters Pond Bürocampus wirkt so neu und sauber wie aus dem 3D Drucker, seit zwanzig Jahren schon, und auch die Autos der Angestellten – vor allem Defense Contractors, fürs Verteidigungsministerium tätig – glänzen frisch gewaschen.
Manche der Flutlichtmasten auf dem Gelände haben hoch oben auf ihren Plattformen roh aussehende, runde Strukturen aus Zweigen, Stöcken und Ästen. Mit ihren Durchmessern von gut zwei Metern erinnern sie an verirrte Riesenosternester. Hier nisten Weißkopfseeadler, genau die Sorte, die für Stärke, Mut und Unabhängigkeit steht und auf der Rückseite des Ein-Dollar-Scheins zu sehen ist. Je paarweise ziehen sie ihre Brut groß.
Auf die Bald Eagles wies Debby mich hin, die Campusmanagerin. Glatzenadler, fuhr es mir durch den Kopf, denn ich übersetzte bald mit kahl und nicht mit dem altenglischen balde für hell oder weiß. Vielleicht passte diese Assoziation auch einfach zu schön zu meinen Vorurteilen gegenüber der patriotisch gesinnten Mieterschaft. Obwohl ich bisher vor allem zackige Kurzhaarschnitte gesehen habe (bei den Männern) oder lange, ondulierte Haare bei den Frauen.

Debby selbst, zwei Köpfe kleiner als ich und mit autoritärer Mickey-Mouse-Stimme, trägt die langen, grauen Haare offen über den selbstgestrickten Pullovern. Zuständig für den reibungslosen Ablauf auf dem Campus steht sie einem Team getreuer Haustechniker vor und gilt als unentbehrlich. Mir macht sie gerne das Leben schwer. Vor allem seit ich versuche, die nach zweijähriger Bauphase endlich eröffneten CoWorking- und Gemeinschafträume im Erdgeschoss von Gebäude 4698 mit innovativen Programmen zu beleben. Was auch immer ich vorschlage – Billiardturniere, Kunstunterricht, frische Smoothies oder Yoga- heißt es, ›ihre‹ Mieter hätten daran kein Interesse. Und an einer veganen Lunchbox zum National Veggie Burger Day schon gar nicht.
Debby kennt die meisten Mieter persönlich. Gerne betont sie, dass es sich um Defense Contractors handele. Als wüsste ich das nicht längst und hätte mein Design immer wieder zähneknirschend an die erhöhten Sicherheitsanforderungen anpassen müssen: gläsern transparent gedachte Büros wurden zu uneinsehbar verschlossenen Kuben mit flachen Glasschlitzen im oberen Viertel und ein beträchtlicher Teil meines Budgets floss in abhörsichere Isolierung und neueste Schlüsselkartensysteme.

 

Manchmal hatte ich Debby im Verdacht, angebliche Beschwerden der Defense Contractors vorzuschieben, um eigene Überzeugungen durchzusetzen, wie etwa, als sie die dunkelgrüne Akzentwand weiß streichen ließ. Später verkündete sie, Grün schon seit ihrer Kindheit nicht ausstehen zu können. Ihr Querschießen ist nicht persönlich gemeint, sagte ich mir, und gab mein Bestes, Rapport herzustellen. Ich hörte mir ihre Klagen über den schlimmen Verkehr an, lobte ihre selbstgebackenen Brownies und akzeptierte, dass sie die Wand über dem Kopierer mit Trockensträußen dekorierte, die sie an ihren Enden herabhängen liess wie Würste in der Speisekammer.
Umgekehrt war sie dann einverstanden, als ich Barry anschleppte, einen pensionierten Ornithologen, seines Zeichens Hillbilly mit Schlapphut und amerikanischer Flagge am Rückspiegel. Sein Diavortrag über die Geheimnisse der Haliaeetus leucocephalus, so die lateinische Bezeichnung der auf dem Gelände ansässigen Raubvögel, kam gut an bei den Defense Contractors, und nicht nur, weil der Caterer aus Gebäude 4648 dazu gratis Rindfleisch mit Hühnchen und Eisbergsalat servierte. Besonders bezeichned fand ich, dass der Weißkopfseeadler die Beute anderer Tiere klaut, statt selbst zu jagen.
›Deshalb wollte Benjamin Franklin auch lieber den Truthahn als nationales Symbol, oder?‹, konnte ich mir nicht verkneifen. Barry bestätigte, der Staatsann habe sich gegen den Bald Eagle als nationales Symbol für die Vereinigten Staaten ausgesprochen, weil der Vogel mit seinem Kleptoparasitismus von schlechtem moralischen Charakter sei. Die Vögel jagten hervorragend, hielt Debby dagegen, ihr Beuteverhalten zeuge eben von Intelligenz und der Fähigkeit, Energie zu sparen.
Jetzt ist Debby, die zuletzt im Rollstuhl ihre Kreise über den glatten hellgrauen Betonboden zog und dabei herrisch-mütterlich ihre Aufgaben, Anweisungen und Anerkennungen verteilte, gestorben.
With great sadness … passed away …
Die Worte in der Email flirrten auf dem Screen, es erwischte mich kalt. Ich dachte, dass man die Anwesenheit von Menschen, selbst jenen, die einen an die Grenzen seiner Nerven bringen, niemals für selbstverständlich nehmen sollte.
Wir organisierten ein Memorial Open House mit Jazzmusiker am Keyboard und Cupcakes im Konferenzraum. An der Bowle nippend, schaute ich zu wie eine Gruppe von Defense Contractors mit zackigen Kurzhaarfrisuren und hochgeknöpften Hemden in meinem verglasten Art Room Kieselsteine bemalten. Später legten sie die Steine unter dem jungen Kirschbaum ab, den die lokale Gärtnerei für Debbys Andenken gestiftet hatte. Das ging schon fast in Richtung militärischen Ehren.